Zehn Jahre Mercedes-Benz in Tuscaloosa
16.07.2007

Bill Taylor führt die Hände seitlich nach oben, wie ein Lehrer, der seine Klasse zum Aufstehen auffordert. Bei Bill Taylor brandet dann Applaus auf, je höher die Hände, je häufiger die Bewegung nach oben, desto mehr Applaus von vielen tausend Händen, ja sogar Jubel aus vielen tausend Kehlen. Bill Taylor ist Leiter des Werks Tusculoosa im US-Bundesstaat Alabama, in dem Mercedes-Benz alle Sports Utility Vehicles (SUV) baut. Er und seine Mitarbeiter haben Grund zum Jubeln; denn das Werk besteht zehn Jahre.
Amerikaner klatschen und jubeln nun einmal mehr als andere, besonders dann, wenn es eigene Leistung zu feiern gilt. Einen Grund lieferte ihnen Dieter Zetsche, der große DaimlerChrysler-Chef aus Stuttgart, der ihnen zu einem Rekord gratulierte. Noch nie in den 125 Jahre Autobau bei Mercedes-Benz hat ein Werk so viele Anläufe in so kurzer Zeit bewältigt wie Tusculoosa - erst die zweite Generation der M-Klasse, dann die R-Klasse und der GL, alles in 30 Monaten.
Die meisten der 4000 Mitarbeiter und ein paar Journalisten hatten sich beim Schichtwechsel zu einem so genannten „Townhallmeeting“ getroffen, dass aber nicht - wie der Namen vermuten lassen könnte - im Rathaus, sondern in einer Werkshalle stattfand. Der Governor Bon Riley trat ebenfalls ans Mikrofon, mit sorgfältig gerichteter Frisur und professionellem Blick für die Fernsehkameras. Auch er folgte der für diesen Tag angesagten Anzugsordnung: Polohemd mit Mercedes-Stern.
Mit seiner Rede wurde klar, dass der Jubel nicht nur der üblichen amerikanischen Begeisterungsfähigkeit entsprang. Auf der Bühne und vor der Bühne war Dankbarkeit zu spüren. Für den Governor war die Entscheidung der Auftakt einer besseren wirtschaftlichen Entwicklung seines Staates. Jetzt folgen andere. So investiert Thyssen-Krupp mehr als drei Milliarden Euro in ein Stahlwerk bei den Südstaatlern in Alabama.
In einem Pressegespräch vor dem Townhallmeeting war schon die Rolle des Werks für diesen armen Staat deutlich geworden. Governor Riley nannte Zahlen: Mehr als eine Milliarde US-Dollar hat Mercedes-Benz inzwischen in diesen Standort investiert und fast sieben Milliarden Wertschöpfung - die Lohnsummen nicht mitgerechnet - sind in den zehn Jahren bei Zulieferern, Bauunternehmern und Handwerkern in Alabama geblieben. Vier Prozent des Wirtschaftswachstums von Alabama verdanke der Staat Mercedes-Benz, sagte Riley.
Riley sprach aber auch vom armen Alabama. Im Süden des Staates liegt das Jahreseinkommen um 40 000 US-Dollar unter dem im Norden, in dem Tuscaloosa liegt. "Erinnert Euch, wo wir vor zehn Jahren standen", rief er den Arbeitern zu. "Es ist das Verdienst eines jeden Einzelnen von Euch, dass wir es so weit gebracht haben." - Loben können sie, die Amerikaner.
Unter den tausenden Mitarbeitern, alle ebenfalls mit Polohemd - den Stern auf der linken Brust und den Vornamen auf der rechten - gab es wohl niemanden, der die Entwicklung nicht nachvollziehen konnte. Hinter all dem Jubel und dem Klatschen à la Bill Taylor steckte offen zu Tage tretende Dankbarkeit - erstaunlich für einen Deutschen, der schon einmal eine deutsche Betriebsversammlung besucht hat.
Es liegt wohl an Bill Taylor und seinem Teamgedanken, dass man in einer Fabrik im tiefen Alabama auf so viel Motivation und Begeisterung trifft. "Team member" ist das Wort, dass wir bei unserem Besuch am häufigsten hörten. Alle sind Team member. Auch seinen direkten Vorgesetzten aus Stuttgart stellt Taylor so vor: ein neues Teammitglied.
Was andernorts aufgesetzt wirken würde, klingt hier nach gelebtem Prinzip. Taylor hat offenbar die Erfahrungen eines langen Berufslebens einbringen können. Solche Chancen bieten sich in einer Karriere nur selten, meist nur dann, wenn es darum geht, eine neue Fabrik auf der grünen Wiese aufzubauen. Sympathisch, dass man ihn hat gewähren lassen.
Heute leitet er eine hochmoderne Fabrik, die pro Jahr 170 000 SUV bauen kann. Noch in diesem Jahr - Dieter Zetsche sagt, bis zum 4. November - soll das einmillionste SUV in Alabama vom Band rollen. Zum modernen Fabrikationskonzept gehört hier nicht nur das Liefern von Teilen "just-in-time", sondern die noch anspruchsvollere Form des "just-in-sequence". Jedes Teil wird von Zulieferern genau dann ans Band geliefert, wenn es für die Montage des Fahrzeugs benötigt wird.
Drei große Zulieferer beteiligen sich daran: Brose aus Coburg mit einer kleinen Fabrik für Türsysteme außerhalb des Werkzauns, ZF liefert von etwa weiter entfernt Achsen und Johnson Controls Teile für die Innenausstattung.
Man habe in Tuscaloosa das Beste von der deutschen Produktionstechnologie mit dem Besten der japanischen kombiniert, umreißt Dieter Zetsche das Konzept. Dazu gehört heute eben auch die geringe Bevorratung von Teilen und eine Gruppe zuverlässiger Zulieferer, die diesen logistischen Anforderungen gerecht werden. Alle gemeinsam erklären, sich der kontinuierlichen Verbesserung der Prozesse verschrieben zu haben.
Dieter Zetsche hatte 2003 in seiner damaligen Funktion die endgültige Entscheidung für Tuscaloosa getroffen. Entsprechend dirigierte Taylor den Applaus. Entsprechend flogen auch die Komplimente vom Governor zum DaimlerChrysler-Chef und ungekehrt. Jedermann schien glücklich mit der Entscheidung von damals und der Entwicklung bis heute.
Das Betriebsklima passt in Tuscaloosa übrigens nicht nur bei den Mitarbeitern. Draußen vor den Wänden des strahlend hellen Werkskomplexes glüht die Luft. Die Außentemperatur im Sommer ist hier so hoch, dass die deutsche Arbeitsstättenverordnung sie für das Innere eines Stahlwerks nicht zulassen würde. Aber drinnen ist’s erträglich; die Hallen und alle Nebenräume sind klimatisiert.
Da ist gut arbeiten und gut lernen. Fortbildung und Training gehören zu den Stärken des Werks. So übernimmt der Staat Alabama jetzt ein Fortbildungsprogramm des Werks für seine staatliche Hochschule. Überhaupt fällt auf, wie sehr sich Mercedes-Benz in Alabama als guter Bürger verhält. Man engagiert sich für einander.
Übrigens mussten Bill Taylors Hände bei der Vorstellung der hochrangigen Gäste aus Stuttgart einmal eher dämpfend eingreifen. Während bei den anwesenden Mitgliedern des Vorstands der Applaus freundlich und lang anhaltend ausfiel, brach ein scheinbar nicht enden wollender Jubel los, als Andreas Rentschler, der heutige Nutzfahrzeug-Vorstand, begrüßt wurde. Er war der Deutsche der ersten Stunde in Tuscaloosa und hat hier offenbar alles richtig angefasst. Da war sie wieder, die Dankbarkeit. Sweet Home Alabama. (ar/Sm)
Von Peter Schwerdtmann