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Das Automobil wird Augen bekommen

29.04.2005
Das Automobil wird Augen bekommen

Vier Jahre lang tüftelten 24 Unternehmen mit staatlicher Unterstützung an der Vision einer mobilen Zukunft. 76 Millionen Euro investierten sie in das Projekt INVENT (INtelligenter VErkehr und Nutzergerechte Technik), in dem wegweisende Verkehrskonzepte entwickelt werden sollten. Rund 40 Prozent der Forschungsgelder stammten vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Nun haben die Unternehmen von Bosch über BMW, Ford, DaimlerChrysler, Opel und VW bis zu dem Digitalkartenanbieter Navteq, Elektronikexperte Siemens, Mobilfunkanbieter SonyEricsson und dem Logistikunternehmen Hermes die Ergebnisse für die mobile Zukunft vorlegt. Am 28. April 2005 standen die Innovationen aus den Bereichen Fahrerassistenzsysteme, aktive Sicherheit und effizientes Verkehrsmanagement für die Fachwelt "erfahrbar" auf dem MAN-Testgelände in Dachau bereit.

Die Initiative ist in ihrem Umfang einzigartig: Besonders der sensible Bereich der Forschung und Entwicklung wird üblicherweise in den Firmen geschützt wie die Kronjuwelen der britischen Königin. In diesem Fall haben die Unternehmen an einem Strang gezogen und gemeinsame Standards entwickelt, um über die Markengrenzen hinweg später interdisziplinäre Kommunikation zu ermöglichen. "Wir sparen damit in der Vorentwicklung viel Geld, da wir kosteneffizient arbeiten und Parallelentwicklungen unterschiedlicher Hersteller vermeiden", erläutert BMW-Entwicklungsvorstand Prof. Dr. Burkhard Göschel, die Motivation zur Zusammenarbeit. "Außerdem haben wir interdisziplinär Standards gesetzt, die die künftige Entwicklung vereinfachen. Denn nur untereinander kompatible System werden sich durchsetzen."

Dabei kristallisierte sich ein Trend für die künftige Mobilität eindeutig heraus: Das Automobil wird "Augen" bekommen und seine Umgebung wahrnehmen können. Infrarotkameras, Laser, Videotechnik, Radar sowie GPS-Sender und Empfänger werden in zehn Jahren so selbstverständlich im Auto verbaut wie heute Sicherheitsgurte und ABS. Demnächst ist das Auto selbst Sender von Informationen über die Lage auf der Straße. Wie ein im Strom schwimmenden Korken (floating car data) gibt es Informationen über die Reisegeschwindigkeit und die Verkehrsdichte weiter. Diese Daten verdichten dann das Netz der Informationen und leiten Autofahrer noch präziser an ihr Ziel.

Bis es soweit ist, werden Erfindungen wie der Stauassistent das Leben erleichtern: Neben den Prototypen von Audi und VW war der schon sehr seriennahe Opel Vectra mit Stauassistent besonders beeindruckend: Ganz entspannt sitzt der Fahrer hinter dem Lenkrad seines Vectra, fährt an, beschleunigt, bremst und wechselt die Spur - ohne eine Hand am Lenkrad oder einen Fuß auf den Pedalen. Wie von Geisterhand bewegt, dreht sich das Lenkrad. Diplom Ingenieur Nikolas Wagner von Opel Advanced Engineering sitzt am Steuer und hat sich per Knopfdruck an das vor ihm fahrende Fahrzeug elektronisch angedockt. Der Vectra fährt in immer gleichem Abstand hinter dem Führungsfahrzeug, und selbst bei Überholmanövern kann er im Schlepptau bleiben. Dazu verfügt er über drei zentrale elektronische Komponenten. Eine nach vorn gerichtete Lidar-Kamera (Lidar = light detection and ranging) in Höhe der Rückspiegels bestimmt mittels Laserstrahlen die Distanz zu einem vorausfahrenden Fahrzeug. Lidar ist mit Gaspedal und Bremse gekoppelt und hält vollautomatisch ausreichenden Abstand zum Vordermann. Weitere Lidar-Kameras in den Scheinwerfergehäusen und den Stoßfängern erkennen zusätzlich die Fahrbahnmarkierungen und verhindern so ein unabsichtliches Verlassen der Spur. Dritte Komponente ist der elektronische Lenkeingriff, der die Lenkbewegung aus den Daten von Abstandslaser und Infrarotkamera errechnet. Noch drei bis vier Jahre bis zur Serienreife prophezeien die Ingenieure dem System. Die Kosten für den Kunden, so er das denn kaufen möchte, liegen vage beziffert bei rund 2.000 Euro. Allerdings sind die rechtlichen Rahmenbedingungen für Haftungsfragen bei einem Unfall durch den elektronischen Lenkeingriff noch nicht geklärt.

Auch Audi, BMW, Mercedes und VW präsentierten in Dachau entsprechende Systeme. Das komplett automatische Auto sehen die Techniker allerdings noch in weiterer Ferne. Der dynamische Tempomat, der besonders im Stau Nerven schont, hat bei allen Herstellern erst einmal Priorität. Außerdem wird ein Querführungsassistent den einschlafenden Fahrer vor dem Verlassen der Fahrspur warnen. Besondere Bedeutung kommt der Unfallvermeidung im Kreuzungsbereich zu. 30 Prozent aller Unfälle mit Personenschäden ereignen sich dort. Unübersichtliche Kreuzungen, unklare Vorfahrtregelungen, plötzlich auftauchende Radfahrer oder Passanten stellen für den Fahrer eine enorme kognitive Belastung dar. Hier soll der Kreuzungsassistent in Zukunft helfen. Video- und Infrarotkameras detektieren die Fahrzeugumgebung und sind sogar in der Lage, Radfahrer, Bäume, Verkehrsschilder oder Passanten voneinander zu unterschieden. Außerdem können sie den querenden Verkehr an Rechts-vor-Links-Kreuzungen beobachten und warnen den unaufmerksamen Fahrer vor plötzlich querenden Radfahrern, dem Gegenverkehr beim Linksabbiegen oder einem Stoppschild. Notfalls leiten die Systeme sogar eine Notbremsung ein oder hindern den Fahrer daran, in eine Seitenstraße abzubiegen, wenn dort gerade in Fußgänger die Straße kreuzt.

Das effiziente Verkehrsmanagement gerade in Ballungsgebieten wird noch weiter an Bedeutung gewinnen. Rund 70 Stunden verbringt der Durchschnittsfahrer pro Jahr im Stau  zwei komplette Arbeitswochen! Die volkswirtschaftlichen Schäden durch die vergeudete Stauzeit liegen laut einer BMW-Studie bei 100 Milliarden Euro pro Jahr. Steht der Verkehr erst einmal, sind intelligente und dynamische Navigationssysteme, die möglichst in Echtzeit über das Verkehrsgeschehen informieren, gefragt. Die Firma Navteq entwickelt dazu zusammen mit Siemens automatische Routenführungssysteme. Voraussetzung für das System ist, dass demnächst das Auto selbst als Sender von Informationen dient und die zentrale Verkehrsüberwachung über die Lage auf der Straße informiert. BMW, Ford und Mercedes haben zu Testzwecken bereits Fahrzeuge mit Sendeeinheiten ausgerüstet, die wie ein im Strom schwimmender Korken (floating car data), Informationen über die Reisegeschwindigkeit und die Verkehrsdichte weitergeben. Steht ein Fahrzeug im Stau, reicht es diese Information an den nachfolgenden Verkehr weiter, notfalls auch über Fahrzeuge im Gegenverkehr, die die Datensätze "mitnehmen" und an weiter hinten fahrende Fahrzeuge übermitteln.

Ein Problem bei der dynamischen Routenführung stellen heute die digitalen Straßenkarten auf CD oder DVD im Auto dar. Sie werden nur jedes halbe Jahr aktualisiert, und viele Fahrzeuge sind mit Jahre alten Kartensätzen unterwegs. Selbst wenn das Fahrzeug über SMS, GPRS, den TCM (Traffic Message Channel) oder andere Fahrzeuge Stauinformationen erhält und die Route dynamisch neu berechnet wird, so kann das System nur auf Straßen im überholten Basis-Kartenmaterial zugreifen. "Um effektiv zu sein, müssen wir das aktuellste Kartenmaterial in den Fahrzeugen bereit halten", erläutert Bianca Wagner, Navteq Marketing Communication, "Tagesbaustellen oder Umleitungen können so schon vor Fahrantritt in die Routenplanung einfließen." Das bedeutet aber, dass die CD künftig einer Festplatte oder einem beschreibbaren Wechselspeicher weichen muss, der die neuen Informationen auch speichern kann. Außerdem ist es nötig, die komplexen digitalen Straßenkarten in Datenblöcke von wenigen Quadratmetern zu unterteilt und jeweils nur die Abschnitte, auf denen sich die Straßenführung beispielsweise durch eine Baustelle oder einen Stau ändert, über GPS, Digitalradio oder TMC an das Fahrzeug zu senden. Wagner: "Wir können uns auch vorstellen, an den Tankstellen drahtlose Netzwerke zu installieren, um die digitalen Karten in den Fahrzeugen ständig auf dem aktuellen Stand zu halten." Diese Daten verdichten dann das Netz der Informationen und leiten Autofahrer präziser an ihr Ziel.

Auch die Logistikdienstleister wollen von der vernetzten Infrastruktur profitieren. Der mobile Briefkasten ist ein Beispiel dafür was heute schon auf der letzten Meile zum Kunden machbar ist und Fehlfahrten vermeiden hilft: So kann ein Paketempfänger den Kofferraum seines Autos als Zielbriefkasten wählen. Die Position des Fahrzeugs ermittelt der Kurier aus den Daten seines mobilen Navigationssystems. Steht er vor dem Fahrzeug kann er den Kofferraum mittels drahtloser Bluetooth-Technologie und einem einmal per Mobiltelefon zugeteilten Code einmalig öffnen, das Paket hineinlegen und das Fahrzeug wieder verschließen.

Stark beeindruckt zeigte sich auch die Schirmherrin und Geldgeberin des Projektes, Bundesforschungsministerin Edelgard Bulmahn: "Verkehr und Transport sind wesentliche Faktoren von Wirtschaft und Gesellschaft. Die Invent-Partner haben mit neuen Wegen in der Unfallvermeidung und Verkehrsorganisation einen wichtigen Beitrag zur nachhaltigen Sicherung der Mobilität geleistet", so Edelgard Bulmahn. "Unter anderem haben sie die Entwicklung einer Fahrzeuggeneration auf den Weg gebracht, die in der Lage sein wird, mitzusehen, mitzudenken, zu kommunizieren und den Fahrer in kritischen Situationen aktiv zu unterstützen." Für zwei anschließende künftige Projekte zum "Verkehrsmanagement 2010", das Mobilität in Ballungsräumen gewährleisten soll und für "Mikrosystemtechnik für Fahrassistenzsysteme" zur Erhöhung der Sicherheit im Straßenverkehr, hat das Ministerium jeweils 15 Millionen Euro Forschungsgelder bewilligt.

Die Liste der beteiligten Firmen ist lang und bündelt das Innovationspotenzial Deutschlands: Beteiligt sind Audi, BMW, Bosch, DaimlerChrysler Research and Technology, das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt, Ericsson, die Forschungsgesellschaft Kraftfahrwesen Aachen (fka), das Ford Forschungszentrum Aachen, Hella, Hermes Logistik Gruppe, IBM, das Institut für Automation und Kommunikation Magdeburg (ifak), MAN Nutzfahrzeuge, Navigation Technologies, Adam Opel AG, PTV Planung Transport Verkehr AG, die Siemens AG, Siemens Restraint Systems, Siemens VDO Automotive, Transver, TÜV Rheinland Group, die Universität Köln, Rechtsanwälte Vogt & Kollegen und Volkswagen. Als Unterauftragnehmer arbeiten an den Projekten zahlreiche Universitäts-Institute sowie kleinere und mittelständische Unternehmen. Die kontinuierliche Forschung im Bereich Verkehr und Verkehrssicherheit soll die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie und die Innovationsfähigkeit des Standorts Deutschland stärken. (ar/RPB/Markus Jantzen)


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